Die GOÄ-Ziffer 22 ist eine spezielle Beratungsleistung für eine hochsensible und rechtlich klar definierte Situation: die Schwangerschaftskonfliktberatung. Die offizielle Leistungslegende lautet:
"Eingehende Beratung einer Schwangeren im Konfliktfall über die Erhaltung oder den Abbruch der Schwangerschaft - auch einschließlich Beratung über soziale Hilfen, gegebenenfalls auch einschließlich Beurteilung über das Vorliegen einer Indikation für einen nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch"
Diese Ziffer ist mehr als nur ein ärztliches Gespräch. Sie umfasst ein Bündel von Leistungen, die in einer emotional und ethisch fordernden Lage erbracht werden. Analysieren wir die Kernbestandteile:
Ein zentraler rechtlicher Aspekt, der bei der Abrechnung unbedingt zu beachten ist, ergibt sich aus dem Strafgesetzbuch:
Nach § 219 Abs. 1 StGB dürfen die Leistungen nach den Nrn. 22 und 90 nicht von dem Arzt erbracht und abgerechnet werden, der bei der Patientin den Schwangerschaftsabbruch durchführen wird. Diese strikte Trennung zwischen beratendem und durchführendem Arzt ist zwingend einzuhalten.
Zudem schließt die GOÄ eine Kombination mit anderen allgemeinen Beratungsziffern aus. Neben der GOÄ 22 sind die Leistungen nach den Nummern 1, 3, 21 oder 34 nicht berechnungsfähig.
Die Abrechnung der GOÄ 22 erfordert neben medizinischer Expertise vor allem Sorgfalt in der Durchführung und Dokumentation. Es handelt sich um eine Leistung, die bei Prüfungen durch Kostenträger genau betrachtet wird, nicht zuletzt wegen ihrer rechtlichen Implikationen.
In diesen typischen Szenarien ist der Ansatz der Ziffer 22 sachgerecht:
Soziale oder persönliche Notlage: Eine junge Patientin in der Ausbildung stellt fest, dass sie ungewollt schwanger ist. In einem ausführlichen Gespräch werden die medizinischen Optionen, aber auch die sozialen und finanziellen Konsequenzen besprochen. Sie erhält Informationen über Beratungsstellen wie Pro Familia und die Stiftung "Mutter und Kind".
Medizinische Indikation: Bei einer Patientin mit einer schweren Herzerkrankung wird eine Schwangerschaft diagnostiziert. Die Fortführung der Schwangerschaft stellt ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar. Die Beratung fokussiert auf die medizinischen Risiken und die Beurteilung, ob eine medizinische Indikation für einen Abbruch nach § 218a Abs. 2 StGB vorliegt.
Diagnose einer schweren fötalen Fehlbildung: Nach einer pränataldiagnostischen Untersuchung wird eine schwere, nicht mit dem Leben zu vereinbarende Fehlbildung beim Fötus festgestellt. Die Patientin und ihr Partner befinden sich in einem tiefen emotionalen Konflikt. Die Beratung umfasst die medizinische Prognose, palliative Optionen und die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs.
Die Komplexität der GOÄ 22 birgt einige Fallstricke, die zu Beanstandungen führen können:
Falscher Steigerungsfaktor: Die Ziffer 22 ist eine der wenigen GOÄ-Leistungen, für die ein fester Satz gilt. Jeder Versuch, einen höheren als den 1,0-fachen Satz anzusetzen, wird unweigerlich zu einer Kürzung führen.
Identität von beratendem und durchführendem Arzt: Die Abrechnung der GOÄ 22 durch den Arzt, der später den Abbruch vornimmt, ist ein schwerwiegender Verstoß gegen § 219 StGB und führt zur Nichtanerkennung der Leistung.
Fehlende Dokumentation der Beratungsinhalte: Eine pauschale Notiz wie "Beratung nach § 218" ist nicht ausreichend. Die Dokumentation muss die besprochenen Inhalte (medizinische Aspekte, soziale Hilfen, Ergebnisoffenheit) widerspiegeln, um den "eingehenden" Charakter zu belegen.
Praxisbewährter Hinweis: Dokumentieren Sie stichpunktartig die wesentlichen Inhalte des Gesprächs. Ein Vermerk wie "[Datum], Dauer ca. 30 Min., S.-Konfliktberatung bei sozialer Notlage. Erörtert: med. Optionen (Erhalt/Abbruch), soz. Hilfen (Info-Material Pro Familia/Caritas übergeben), rechtl. Rahmen. Pat. wünscht Bedenkzeit." schützt Ihre Abrechnung wirksam.
Eine Steigerung der GOÄ 22 über den 1,0-fachen Satz hinaus ist nicht möglich. Die allgemeinen Bestimmungen der GOÄ sehen für diese Leistung explizit den einfachen Gebührensatz vor. Dies ist unabhängig von der Dauer oder Komplexität des Gesprächs.
Obwohl allgemeine Beratungsziffern ausgeschlossen sind, kann die GOÄ 22 je nach Fall mit anderen Leistungen kombiniert werden:
GOÄ 5 (Symptombezogene Untersuchung): Wenn im Rahmen der Konsultation eine körperliche Untersuchung zur Abklärung spezifischer Beschwerden notwendig wird.
GOÄ 415 (Ultraschalluntersuchung): Zur Bestätigung der Schwangerschaft, der Vitalität und zur exakten Bestimmung des Gestationsalters, was für die weiteren Entscheidungen essenziell ist.
GOÄ 90 (Schriftliche gutachtliche Äußerung): Wenn das Ergebnis der Indikationsprüfung schriftlich festgehalten werden muss, zum Beispiel zur Vorlage bei dem Arzt, der den Abbruch durchführen wird. Dies ist eine häufige und sinnvolle Ergänzung.
Die GOÄ schließt die Nebeneinanderberechnung mit einer Reihe von Ziffern aus. Die wichtigsten sind:
Allgemeine Beratungen: GOÄ 1, 3, 4, 21, 34. Die GOÄ 22 ist die spezifischere und höher bewertete Leistung.
Psychiatrische/Psychosomatische Leistungen: Ziffern wie 804, 806 oder 849 sind ebenfalls ausgeschlossen, da die GOÄ 22 bereits den psychosozialen Beratungsanteil abdeckt.
Achtung: Gesetzliche Vorgabe beachten!
Die wichtigste Regel ist nicht in der GOÄ, sondern im StGB verankert: Der Arzt, der die Beratung nach GOÄ 22 durchführt und abrechnet, darf den Schwangerschaftsabbruch nicht selbst vornehmen. Dies ist die Grundvoraussetzung für eine rechtssichere Abrechnung.
Nein, die GOÄ schreibt keine explizite Mindestdauer für die Ziffer 22 vor. Allerdings impliziert der Leistungstext den Begriff "eingehend". Dies bedeutet, dass die Beratung einen gewissen Tiefgang und Umfang haben muss, der über eine kurze Information hinausgeht. In der Praxis hat sich eine Dauer von mindestens 15-20 Minuten etabliert, oft ist sie jedoch deutlich länger. Wichtiger als die reine Zeitmessung ist eine saubere Dokumentation der besprochenen Inhalte (medizinische Fakten, soziale Hilfen, Ergebnisoffenheit), um den eingehenden Charakter gegenüber Kostenträgern plausibel zu machen.
Die "Beratung über soziale Hilfen" ist ein fester Leistungsbestandteil. Sie umfasst die aktive Information der Patientin über staatliche und nicht-staatliche Unterstützungsangebote. Dazu gehören beispielsweise:
Für eine revisionssichere Dokumentation genügt ein Vermerk wie: "Patientin über soziale Hilfen (u.a. Pro Familia, Stiftung Mutter und Kind) aufgeklärt und Informationsmaterial ausgehändigt."
Die GOÄ 22 ist eine der wenigen Leistungen, für die der Verordnungsgeber einen festen 1,0-fachen Satz festgelegt hat. Dies ist eine bewusste gesetzliche Entscheidung und eine Ausnahme von der Regel, dass ärztliche Leistungen je nach Aufwand gesteigert werden können. Die Begründung liegt in der besonderen Natur der Leistung, die im Rahmen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes steht. Unabhängig von der tatsächlichen Dauer oder der emotionalen Belastung des Gesprächs ist daher nur der einfache Satz abrechenbar. Jeder Ansatz eines höheren Faktors wird von den Kostenträgern korrigiert.
Nein, unter keinen Umständen. Dies ist der wichtigste rechtliche Ausschluss. Das Strafgesetzbuch (§ 219 Abs. 1 StGB) schreibt eine strikte personelle Trennung vor: Der Arzt, der die Konfliktberatung durchführt (und die GOÄ 22 abrechnet), darf den Schwangerschaftsabbruch nicht selbst vornehmen – weder operativ noch medikamentös. Diese Regelung soll die Ergebnisoffenheit der Beratung sicherstellen und jeglichen Interessenkonflikt vermeiden. Eine Missachtung stellt einen schwerwiegenden Rechtsverstoß dar und macht die Abrechnung nicht nur anfechtbar, sondern kann auch strafrechtliche Konsequenzen haben.